1968 Elektronische Musik

Probleme der elektronischen Musik

Version 1. Vortrag gehalten an der Universität Zürich am 14.03.1966

Verehrte Damen und Herren,

Ich werde heute abend Gelegenheit haben, zum ersten Mal öffent- lich einige Ergebnisse meiner spektralanalytischen Untersuchungen vorzulegen und mit Lichtbildern zu erläutern. Ermöglicht wurden mir diese Studien durch die tatkräftige Unterstützung der ameri- kanischen Firma RCA (in der Schweiz vertreten durch Jacqüs Bärlocher Zurich). Unternommen habe ich diese Studien aus den folgenden Gründen: Während meiner praktischen Tätigkeit am Centre de Recherches Sonores von Radio Genf sind immer wieder prinzi- pielle Fragen aufgetaucht, die sich umso dringender stellten, je tiefer ich mich mit der Materie vertraut gemacht habe. Aus diesem einzigen und keinem andern Grunde habe ich es als Komponist unternommen, mittels wissenschaftlicher Untersuchungen diese Fra- gen anzugehen und zu beantworten. Die Ergebnisse meiner Messungen sind nun allerdings erstaunlich und für den Komponisten von unschätzbarem Wert: Es gibt im Verhältnis Musik-Hörer absolute messbare Grössen, auf welche sich eine tragfähige Neukonzeption der Musiktheorie aufbaün lässt. Daraus folgt, dass die elektro- nische Musik nicht zum Scheitern verurteilt ist, weil der Komponist an der Vielzahl ihrer Möglichkeiten, sagen wir also ruhig an ihrer Anarchie zerbräche, sondern dass eine derartige Konzeption dem Komponisten die Mittel an die Hand geben kann, das elektronische Medium ebenso souverän zu beherrschen wie das instrumentale. Doch vorerst einige Worte zur elektronischen Musik überhaupt.

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"Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss", wird uns überlie- fert von Heraklit dem Dunkeln. Ein Gedanke, dessen Sinn sich uns beinahe zur Evidenz verdichtet hat angesichts der Schnelligkeit, mit der wir unsere Welt verändern. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss; wir brauchen nicht zu fragen nach dem Sinn dieser Worte, der Sinn des Heraklitischen Satzes bietet sich uns an, er drängt sich uns auf, wo immer wir hinhören und hinsehen. Wir können uns verkriechen unter die Allongeperücke des Histori- zismus, wir können uns im Biedermeierstübchen des Wohlergehens um Grossmutters Bratenschüssel versammeln, wir können uns verschan- zen hinter klassenkämpferische Schlagworte und längst verrottete Dampfmaschinen oder uns die Haare schulterlang wachsen lassen; wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss. Der menschliche Geist entfaltet sich unaufhaltsam, er stürmt unaufhaltsam Neüm zu: einst unüberwindlich, hat der menschliche Geist die Distanz überwunden, und sie ist für uns zusammengeschnurrt zum metallenen Rund der Telefonwählscheibe, zum portablen Walkie-talkie und zur Mattscheibe des Fernsehers. Der Mensch ist im Begriff, auch die Zeit zu überwinden; mittels Tonband und Ringkernspeicher hat er ihre Flüchtigkeit gebannt, und in naher Zukunft wird die Wissen- schaft imstande sein, einen tiefgekühlten Mann des 20. Jahrhun- derts mit einer x-hundert Jahre später geborenen Frau zu verhei- raten. Dagegen werden wir uns ebenso wenig wehren können wie wir es haben verhindern können, dass unsere Städte und Dörfer, einst menschliche Siedlungen, zu Verkehrsschleusen geworden sind und Autos und Strahlflugzeuge allnächtlich unseren Schlaf aufschlit- zen und zerfetzen.

Wir brauchen uns durchaus nicht überspühlen zu lassen von der Springflut dieser Entwicklung; wir können rechtzeitig versuchen, die Kräfte, welche am Werk sind, zu erkennen, ihre Gesetzmässig- keiten zu durchleuchten, Dämme zu errichten und Kanäle auszu- heben; kurzum, wir können versuchen, die anstürmenden Kräfte in unsern Griff zu bekommen und das Wasser auf unsere Mühlen zu lenken. Aber wir müssen etwas unternehmen. Von selbst wird sich das nicht regeln.

Auch vor der stillen Stube des Komponisten macht die Entwicklung nicht halt, ebensowenig wie vor der Tür des Architekten, vor den Toren der Industriebetriebe und Forschungslaboratorien. Aber ich glaube, gerade ihm, dem Komponisten, dem Künstler überhaupt, bringt dies viel Schwierigkeiten. Einerseits Seismograph von grosser Empfindlichkeit für Dinge, die kommen werden, lebt er anderseits in der Umfriedung der Tradition in einem Ausmass, das weder der zukunftsgerichtete Techniker, die marktgebundene Indu- strie noch die "vorurteilslose" Forschung kennt. Die Welt des Komponisten ist, und sei er noch so forschrittlich, weitgehend identisch mit der Welt unserer Musikinstrumente und ihrer Spiel- praxis, der geschriebenen und mündlich weitergereichten Tradition, ohne welche es unsere europäische Musikkultur überhaupt nicht geben könnte. Und selbst wenn unsere Musikinstrumente von den Komponisten mit Füssen getreten werden, wenn Flügel demon- tiert, Geigen zersägt und Harfen vergewaltigt werden: der Kompo- nist bleibt doch innerhalb der Umfriedung, er bleibt im Tempel- hain unserer Musiktradition, die allerdings nicht WIR, sondern unsere Väter und Vorväter zu IHREN Zwecken und NACH IHRER Massgabe gebildet haben. Zweck und Massgabe haben sich verändert, geblieben sind die Ausdrucksmittel; und diese genügen NICHT mehr, um das Innerste von uns heutigen Menschen auszudrücken und zu gestalten. Sobald der Komponist von der Tradition bedrängt wird, fühlt er sich sozusagen in die Rolle des Ikonenmalers gedängt, sei es, dass er vor der Aufgabe steht, für den sich ihm anbietenden , längst festgelegten Apparat des grossen Orchesters zu schreiben, sei es, dass es darum geht, in die längst eingespielten Formen von Oper und Sinfonie hineinzu schlüpfen. Ikonenmalerei? Vergessen sie nicht, hinter dem heutigen Kompo- nisten steht kein Byzanz, das ist längst vorbei. Also entledigt sich der Komponist seiner Aufgabe, indem er entwertet oder negiert, das heisst im verantwortungsvollen Sinne : Parodie oder Zerstörung. (Der Kollege von der U-Musik macht sich die Sache leichter; er nistet sich im Sinfonieorchester und selbst im Gefüge von Bachfugen ein wie der Pöbel des revolutionären Paris im ausgeplünderten Louvre, degradiert das herrliche Instrument zum blossen Flittertand und kassiert dickes Geld.)

Neigt der Komponist der mönchischen Haltung zu, macht er sich also zum Sachwalter der Tradition (und ich glaube, das ist bei uns der Normalvertreter des Komponisten), dann wird das Unbehagen nicht kleiner. Auch er gerät in Schwierigkeiten: a) entweder er verschliesst sich der Zukunft und spinnt sich ein in ein Netz von alexandrinischer Musik-Grammatik; damit läuft er aber Gefahr, eines Tages zum Vorsteher einer musikhistorischen Fossilien-Sammlung geworden zu sein (man denke an Albrechtsber- ger, an Richard Stöhr, den Wiener Antipoden Schönbergs) b) oder er will bewahren, am Leben erhalten, hinüberretten in eine neü Zeit was gewesen und ihm teür ist; dann aber beginnt für ihn jener Leidensweg, den ich persönlich durchschritten habe.

Gewiss wird er sich freün, dass Beethoven und Mozart, ja überhaupt alle grossen Meister der Musik inklusive Kleinmeister und mit ihnen ein Kometenschweif von Epigonen heute sich einer sagenhaften Beliebtheit und Verbreitung erfreün wie nie- mals zuvor: Beethoven und Mozart, ja alle Meister der Musik inklusive Kleinmeister gemixt aus der Musikkonserve zu jenen bekömmlichen Coctails, die der Wohlstandsmensch so gierig schlürft: Beethoven aus der Stereo-Anlage zu Whisky oder Sekt, Mozart bei Geflügel und Wild oder zum Nachtisch, dort zwei düstere Akkorde von Tschaikowsky als Filmuntermalung oder Fernsehspot, Boccherini-Quartett als background bei der Buchmesse am Stand für Intellektülle etc.pp. Wo Bach einst zufuss nach Lübeck gepilgert war, um Buxthude an der Orgel zu hören, dreht heute bereits der kleinste Wicht bloss am Knopf, und findet er nicht, was ihm behagt, ist der Weg nicht weit ins nächste Disco- Center. Der Komponist wird sich Umgang wünschen mit seinem musikalischen Medium, wie der Fisch nach Wasser verlangt. Aber ist ihm das Orchester so geläufig wie dem alten Haydn? Nein, der heutige Komponist wird sich eingestehen müssen, dass jeder spezialisierte Arrangeur besser fürs grosse Konfektions-Sinfonieorchester schreibt als gerade er selbst, was in Amerika längst zur Brodway- Musikfabrikation mit Arbeitsteilung geführt hat. Der Komponist wird sich zurufen: ad fontes, zurück zur Muttermilch der Volksmusik! Aber wo ist sie denn, unsere Volksmusik? Auf dem Lande, wo die Lämmer sind? Nein, Helenchen wird uns stolz deutsche Schlager aus der Musiktruhe vorsetzen. Die Volksmusik ist tot, im Archiv: die Musikwissenschafter und Komponisten (Bartock, Kodaly etc) haben sie hinübergerettet in eine spätere Zeit. Möge sie einst wieder erblühen! Der Komponist wird sich sagen müssen, dass heute ein verschwindend kleiner Teil von ernster Musik im Original, der Haupthappen aber in Reproduktion konsumiert wird. Dies als unvermeidliche Folge der Massenverteilung durch Platte, Funk und Fernsehen. Der Komponist schreibt zwar (immer noch) für den Konzertsaal, aber in 99 von 100 Fällen erreicht sein Werk den Hörer über den Rundfunk oder die Schallplatte, obwohl weder unsere Musikinstrumente noch die für sie geschriebenen Werke für das Mikrofon konzipiert sind. Dies und noch Vieles mehr, was aufzuzählen mir die Zeit verbietet, bildet die MUSIKALISCHE WIRKLICHKEIT VON HEUTE; das ist die Kehrseite unseres ach so erfreulichen Musikbetriebs. Setzen wir nun den Fall, der Komponist gelange zur Einsicht, dass es sich schlecht verträgt mit seinen künstlerischen Anliegen, entweder nur Ikonenmaler oder Rohstoff-Lieferant für die musikalische Konsumgenossenschaften zu sein;ù setzen wir den Fall, er sucht Einsamkeit, Besinnung (Sammlung) und Wahrhaftigkeit und wagt in seiner Not den Schritt hinüber ins Reich der el. Musik; was wird er gewinnen? Gewinnen wird er den Ausbruch aus jenem Teufelskreis der elektroakustischen Übertragung, welche unsere Instrumental-und Vokalmusik tagtäglich erleidet. Seine elektronische Originalmusik wird auch im el.ak.Medium niemals zur Reproduktion, denn sie erleidet dieses Medium nicht, sondern ist für es genuin konzipiert. Die ganze riesenhaft aufgeblähte Maschinerie, welche sich zwischen Komponist und Hörer geschoben hat, vom Mikrofon bis zum Lautsprecher, ist neutralisiert, resp. als Bestandteil seiner Komposition mit hereingenommen und damit im Griff des Komponisten; wie im Konzertsaal, so tritt er auch am Lautsprecher mit Originalmusik vor seinen Hörer. (Allerdings eventüll gestört durch Reduktion der räumlichen Komponente!) Im Studio für el.M. entrinnt der Komponist auch jener Beschränkung, welche ihm das überkommene Instrumentarium auferlegt (Busoni, Varese!). Das Medium der el.M. bietet ein Klangkontinuum, das die Summe aller akustischen Erscheinungen (virtüll) umfasst und deshalb dem Komponisten die Relisation seiner Klangvisionen auch im kühnsten Falle nicht vorenthält. Der Komponist gewinnt also enorm an Freiheit, 1906 schrieb Busoni: "...plötzlich...schien es mir klar geworden, dass die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert." Was aber hat der Komponist dafür hingegeben? Geborgenheit und Sicherung, die eine aus reicher Erfahrung gebildete Tradition ihm zu Verfügung stellen konnte. Und das ist ein hoher Preis! Jetzt, angesichts des Unbegrenzten, werden gesicherte Grössen zu Unbekannten. Aufgerufen, vom ausgebreiteten Reichtum Gebrauch zu machen, erkennt der Komponist, sobald einmal der erste Rausch der neün Freiheit ausgeschlafen ist, dass er im el.Studio nicht mehr einer wohlgeordneten, durch Jahrhunderte lange Erfahrung gelenkten Ordnung, sondern der AMORFEN Gesamtheit aller Möglich- keiten gegenüber steht; und jetzt verwandelt sich, was ihm eben noch als ungeahnte Möglichkeit zur Realisierung des noch Un- Gehörten erschien, in die absolute Unordnung einer Welt, die sich seinem Zugriff zu entziehen droht.


 

ù Das habe ich im April 1990 wieder bestätigt gefunden durch die Gamelansendung von Hilversum IV! Also immer noch ärger! Dialog als Rohstoff für den MIX von Michäl Fahres! \dag66\dag661.jou 16.03.66 und 02.04.66 16.03.66 Zum Vortrag vom 14. im musikwissenschaftl. Seminmar der Uni Zürich. Die billigste, aber unvermeidbarste Frage (von Peter Otto Schnei- der gestellt, Kritiker TAT): was hat denn dies mit Musik zu tun? Antwort: Ich denke, wir haben doch sicher jene Anmassung Wilhelms II. überwunden, der sagte: was Kunst ist das bestimme ich! Denn dies setzen sie; Musik ist also für sie eine feste Grösse, welche sie genau kennen. Ich aber glaube: Musik ist keine bekannte Grösse sondern ein Komplex. Zur Klärung desselben müsste man a) alle elementaren "Wurzeln" kennen, welche diesem Komplex zugrunde liegen und zudem auch wissen, in welchen internen Beziehungen diese zum Komplex 'Musik' stehen. b) oder man müsste zu einer Art common sense gelangen, wobei dann immerhin noch zu fragen wäre: consensus quorum? Wer gibt seine Stimme ab? Haben wir denn noch die Einheit der Kultur, welche allein einen derartigen Consensus liefern könnte? (P.O.Schneider gibt keine mündliche Replik, aber schreibt eine schamlose "Kritik" in der TAT v.....) 02.04.66 Der Begriff Musik in der Sicht von Nicolaus Cusanus, Zeitgenosse von Machault, Dufay, Binchois. Man lese und urteile, ob er sich dekt mit "unserer" Auffassung von Musik.